L. S. Ritter: General Aleksej von Lampe

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Titel
Schreiben für die Weisse Sache. General Aleksej von Lampe als Chronist der russischen Emigration, 1920–1967


Autor(en)
Ritter, Laura Sophie
Reihe
Imperial Subjects – Autobiographik und Biographik in imperialen Kontexten (4)
Erschienen
Köln 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
von
Stephan Rindlisbacher

Biographische Ansätze ermöglichen unmittelbare Zugänge zu historischen Akteurinnen und Akteuren. Das Leben und Wirken von Aleksej von Lampe eignet sich aus mehrerlei Hinsicht hervorragend für eine lebensweltliche Studie. 1885 im Russischen Reich in eine adlige Familie geboren, schien von Lampes Karriere als Offizier in der zaristischen Armee schon vorgezeichnet. Ab dem Alter von 10 Jahren absolvierte er eine militärische Ausbildung, mit kaum 20 Jahren war er am Russisch-Japanischen Krieg beteiligt. Die Oktoberrevolution stellte einen entscheidenden Bruch für ihn dar. Bald nach dem Oktober 1917 schloss er sich den Kräften an, welche später die Weissen Armeen bilden sollten. Nach deren vernichtender Niederlage im Russischen Bürgerkrieg musste Aleksej von Lampe wie viele andere seiner Kampfgenossen ins Exil gehen. Als hochrangiger Offizier war er dort weiter für den General Pëtr Vrangelʼ tätig und wirkte ab 1924 als Vertreter von dessen Russkij Obš čě -Voinskij Sojuz (Russische Allmilitärische Union, kurz ROVS) in Deutschland. Laura Ritter nutzt von Lampes Tagebuchaufzeichnungen von seiner erzwungenen Emigration aus Russland 1920 bis zu seinem Tod 1967 als Ausgangspunkt für ihre umfassende Untersuchung.

Ausgehend von den Ansätzen der neueren Biographieforschung, die Individuen in ihren Lebenswelten, ihren sozialen, ethnischen, religiösen und politischen Kontexten untersucht, will Laura Ritter die Selbstwahrnehmung sowie die Handlungsspielräume eines russischen Emigranten untersuchen und damit sowohl einen Beitrag zur Geschichte der russischen Emigration nach 1917 als auch zur (Auto‐)biographieforschung leisten (S. 28 f.). Dabei geht sie nicht strikt chronologisch sondern thematisch vor, indem sie von Lampe in seinen unterschiedlichen Rollen untersucht: als Archivar und Autobiograph für die «Weisse Sache», als Offizier, als Chronist der Berliner Emigrantengemeinschaft, als Patron innerhalb der Emigrantennetzwerke sowie schliesslich als Vorsitzender des ROVS von 1957 bis 1967.

Ritter untersucht einen Akteur der Weissen, der auch in der Emigration nie aufhörte, gegen die Bolschewiki zu arbeiten, sich aber gleichzeitig wiederholt mit Fragen konfrontiert sah, wie er sich und seine Familie finanziell unterhalten könne. Von Lampe hat dabei sowohl in Berlin (1920–1945) als auch in Paris (1946–1967) jeweils eine Doppelrolle eingenommen. Einerseits vermittelte er Mittel und Kontakte als Patron für bedürftige russische Emigranten, andererseits waren auch er und seine Familie immer wieder auf materielle Unterstützung anderer angewiesen.

Ein problematisches Feld stellt von Lampes Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime ab 1933 dar. Mehrmals bot er der deutschen Regierung die Dienste seiner Organisation für einen Kampf gegen die Sowjetunion an. Dabei stellten der strikte Antibolschewismus sowie der Antisemitismus die Grundlage für diese Zusammenarbeit dar (S. 138 f.). Während des Krieges gegen die Sowjetunion unterstützte von Lampe die aus sowjetischen Kriegsgefangenen gebildete Armee unter Andrej Vlasov (S. 347–351).

Nach der Niederlage Deutschlands konnte von Lampe als Vertreter des Roten Kreuzes für die Staatenlosen ein neues Tätigkeitsfeld finden und sich gleichzeitig geschickt alliierten Nachfragen über sein Wirken in Nazideutschland entziehen (S. 358–367). Dank seiner breiten Vernetzung gelang es ihm schliesslich, Ende 1946 mit seiner Frau nach Paris zu emigrieren. Dort stieg er 1957 zum Leiter des ROVS auf. Dabei ging es von Lampe aber nicht mehr darum, einen neuen Krieg gegen die Sowjetunion vom Zaun zu brechen, sondern vor allem um karitative Tätigkeit für die alternden Veteranen der Weissen (S. 394 f.). Schliesslich hatte von Lampe nun auch die Mittel und die Zeit für eine umfangreichere publizistische Tätigkeit, mithilfe derer er seine Sicht auf die Geschichte festhielt.

Es ist ein wesentliches Verdienst von Ritters Studie, dass sie explizit auf Leerstellen in von Lampes Selbstentwürfen hinweist. Dazu gehören seine geheimdienstlichen Tätigkeiten (S. 178–180), religiöse (S. 230) sowie politische Fragen (S. 265) als auch seine Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime (S. 365). Insgesamt kommt Ritter zum Schluss, dass von Lampes «Tagebuch nicht nur als eine Brücke zwischen seinen drei Leben in Russland, Deutschland und Frankreich betrachtet werden [kann], sondern gelichzeitig auch als deren Erinnerungsort» (S. 412).

Allerdings läuft die Untersuchung wiederholt Gefahr, von Lampes Selbstdeutungen unkritisch zu reproduzieren. So verzichtet die Autorin auf eine Analyse der politischen Strömungen unter den Berliner Emigranten mit dem Argument, dass von Lampe aufgrund seiner militärischen Position keiner politischen Vereinigung angehört habe (S. 265). Damit lässt sie offen, inwiefern von Lampes konservativ monarchistische Überzeugungen von anderen Emigranten geteilt wurden, ob er sich damit in einer Mehrheit oder einer Minderheit befand. In diesem Zusammenhang problematisiert sie auch nicht, was unter dem im Titel genannten Begriff «Weisse Sache» zu verstehen ist und ob unter den russischen Emigranten unterschiedliche Deutungen miteinander konkurrierten. Ferner thematisiert Ritter auch nicht von Lampes fast völlig fehlende Reflexion seiner russisch-nationalistischen Haltung (S. 376 stellt eine Ausnahme dar), obwohl sich diese Frage angesichts der vielen Rückschläge und Enttäuschungen durchaus aufdrängt. Schliesslich kommt die Autorin wiederholt zum Schluss, dass von Lampe trotz aller Einschränkungen seinen Handlungsspielraum jeweils «maximal» genutzt habe (S. 314, 337, 340, 356 sowie 401). Da sie aber keinen vergleichenden Kontext liefert, ist dies eine nicht falsifizierbare Aussage. Ungeachtet der genannten Schwächen bietet Laura Ritters Buch überaus wertvolle Einblicke in die Lebenswelt weisser Emigranten zwischen 1920 und 1967.

Zitierweise:
Rindlisbacher, Stephan: Rezension zu: Ritter, Laura Sophie: Schreiben für die Weisse Sache. General Aleksej von Lampe als Chronist der russischen Emigration, 1920–1967, Köln 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 205-207. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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